2006 - Ärzte ohne Bremsen

„Von Berufsstand spricht man, wenn der Beruf zum Stillstand gekommen ist“ bespöttelte einst Wolfgang Metzger, Altmeister der Gestalt- und Wahrnehmungspsychologie, die eifernden Debattierer seines Berufsverbandes. Sein Bonmot trifft heute einen großen Teil der Ärzteschaft.

Die Maigesänge der demonstrierenden Ärzte offenbaren nämlich beruflichen Stillstand. Hier kämpfen Gutverdiener darum, Mehrverdiener zu werden. Das sollte eigentlich unser aller Anteilnahme, Mitleid und Trost wert sein, ist

aber nach Meinung der Ärzte selber doch nur wieder mit Geld auszugleichen. Vergeblich hatte die Gesundheitsministerin gefleht, die Ärzte sollten sich in Einkommensfragen doch einmal an anderen akademischen Berufen orientieren. Sie scheiterte damit an jener Verständnisbarriere, die derzeit nahezu täglich als Ärztenotstand apostrophiert wird. Es geht ja den Ärzten nicht um Probleme, mit denen sich auch andere Studierte zu plagen hätten – es geht hier um ganz und gar ärztetypische Nöte.

Es geht um Einsatzzeiten, die man unsinnig nennen darf.
Diese Einsatzzeiten werden von Ärzten geplant und beaufsichtigt. Es geht um völlig unangemessene Einsatzbedingungen, die ebenfalls wieder von Ärzten gefordert und

verwirklicht werden. Man hört sogar, die medizinische Versorgung werde mit dem gesundheitlichen Ruin von Ärzten erkauft, speziell dem von Assistenz- und Hausärzten. Je nach Zuhörerschaft spitzt dies der Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe noch schärfer zu. Er ist nicht nur amtierender Chefarzt, er ist auch Präsident der Ärztekammer Nordrhein und Präsident der Bundesärztekammer dazu. Wenn also Arzt zu sein zur Belastung geworden ist, bitte sehr, dagegen sei gestreikt und demonstriert. Man darf aber nach Ursache und Art dieser Belastung fragen. 

Würde sich nämlich der streikeshalber beklagte Arbeitstag der selbständigen und gar der angestellten und beamteten Ärzte in irgendeinem nichtärztlichen Betrieb abspielen, wäre doch sogleich die Gewerbeaufsicht zur Stelle, es hagelte arbeits- und zivilgerichtliche Verfahren, man würde den Betrieb einen sozialen Brennpunkt nennen. Es geht hier aber nicht um irgendwelche Betriebe einfacher Unternehmer. Es geht um wirtschaftlich privilegierte Praxen und Kliniken, in denen an privilegierter Stelle ein akademisch ausgebildeter Arzt lenkt und leitet, steuert und organisiert - trotz all der bitter beklagten Risiken und Nebenwirkungen. Da Gott aber zum Amt nicht immer auch den Verstand gibt, mutet der Leitende sich und anderen nicht selten

Unzumutbares zu.

Denn die Leitungskenntnisse und -fertigkeiten des Arztes stammen oft nur aus ein paar Nebenfachvorlesungen, aus privaten Seminaren und vielleicht auch aus der eigenen Leidenserfahrung. Seine Belastung als Führungskraft entspricht dann in etwa der eines Elektro-Ingenieurs, der in die Leitung der Bankettabteilung eines 5-Sterne-Hotels einsteigt. Das Planen der parallelen betrieblichen Abläufe mit wechselnden Prioritäten, das Einsetzen von Personal ganz unterschiedlicher Herkunft, Ausbildung und Fachkenntnis, das Durchsetzen unterschiedlichster Standards und Regelwerke – so etwas will normalerweise doch erst einmal gelernt und vor Übernahme von Verantwortung auch gekonnt sein. Dergleichen fliegt auch dem kompetentesten Heilkundler nicht zu. Es gehört aber wohl zu den Glaubensfundamenten unseres Gesundheitswesens, fehlende Sachkunde lasse sich allemal durch höhere Bezahlung ausgleichen.

Die Süddeutsche Zeitung bringt am 26. Mai 2006 in ihrem München-Teil, Seite 43, den „ganz normalen“ Arbeitstag eines Hausarztes von 8.30 Uhr bis 20.00 Uhr im Format eines Protokolls von Sibylle Steinkohl, die als sozusagen Fachjournalistin mit Arztinteressen seit Jahren vertraut ist.

Ihr Beitrag soll vermitteln, dass Ärzte zu Recht für höhere Honorare kämpfen.

 

Der Arzt ist Internist und 51 Jahre alt. Er besucht gleich morgens mehrere Patientinnen in einem Altenheim (40 Minuten), kontrolliert u.a. eine Medikation nach Gehirnschlag, kehrt dann in seine Praxis zu einem bereits sich füllenden Wartezimmer einbestellter Patienten zurück, zu denen sich dann aber bis 11.25 Uhr weitere 19 „dringende Fälle“ gesellt haben.
Dann plagt sich der Arzt 5 Minuten mit dem Abrechnungssystem, das ihm sein Berufsverband beschert hat. 15 Minuten diagnostiziert er mit dem Sonogramm und beantwortet zwischendurch die Anfrage einer Krankenkasse. Anschließend besucht einen weiteren Patienten zuhause, beantwortet danach weitere Kassenanfragen, schreibt Gutachten, bespricht telefonisch Befunde und plant die Diagnostik der nächsten Tage. Gelegentlich der Erwähnung des ausgefallenen Mittagsessens erfährt man erleichtert, dass er einen Praxispartner und „Mitarbeiterinnen“ hat. Dann kommt auch schon der Nachmittag - mit Wartezeiten (für die Patienten) von „fast“ einer Stunde. Er mache beileibe keine 3-Minuten-Medizin, so betont er da. Er macht eine 10-Minuten-Medizin, in der alles besprochen werde, was zu besprechen sei – „auch eine Viertelstunde oder länger“. Erst zum späten Nachmittag bestellt er sich „schwierige Fälle“ – zwei Depressionen, die er als Internist medikamentös und gesprächsweise behandelt.
Er ärgert sich ausführlich über den „Bürokratie-Aberwitz“, der ihm Dokumentation abverlangt und über Kranken-kassen, die ihm in die Praxis hineinreden wollen. Und er ärgert sich, dass er abends nicht genau weiß, was er verdient hat. Aber soviel weiß er doch, dass die Betriebskosten durch die gesetzlichen Kassen hereinkommen,  die „Erträge“ dagegen – so nennt er den Gewinn – durch die „Privatkassen“. So nennt er die Krankenversicherer der Privatpatienten. Gegen 20 Uhr, auf dem Heimweg, schaut er noch mal bei dem mittags besuchten Patienten vorbei.


Die Redaktion hat für die Überschrift des Beitrags aus

seinen 21 „dringenden Fällen“ plakative 21 „Notfälle“ gemacht und einen 12-Stunden-Tag ausgerechnet. Fairerweise vermerkt der Vorspann, diesem Arzt reiche derzeit noch das Geld, „das er mit nach Hause bringt“.

Natürlich ist es merkwürdig, wenn sich ein Arzt als Tagelöhner vorstellt, der Geld mit nach Hause bringt. Noch merkwürdiger klingt es aber, dass hier Praxispartner und Mitarbeiterinnen anscheinend ganz unbeteiligt zuschauen, wie er sich plagt, sich auch sorgt, ein Generikum reiche nicht an das Original heran und wie er schier verzweifelt über die Abrechnungsziffern und die Schreibarbeit. Da könnte der betriebliche Laie glauben, der Arzt sei in seiner Praxis buchstäblich eingespannt zwischen mehrheitlich sachbearbeitenden und hin und wieder anspruchsvolleren ärztlichen Tätigkeiten. Mit diesem Glauben würde er aber auf den Holzweg geführt.

Der vermeintliche Tagelöhner ist nämlich ein Betriebsleiter mit unbestrittener Direktionsbefugnis. Ausschließlich in seiner Hand liegen die Organisation, die Gliederung der Abläufe und der Einsatz von Mitarbeitern und Gerät. Er hat ja auch seine Praxis offensichtlich sehr gut im Griff. Denn der Betrieb läuft trotz stundenweiser Abwesenheit des Chefs durchaus weiter.

Der vom Patientendruck Geplagte ist aber auch Facharzt für innere Medizin und müsste deswegen keinesfalls zwangsläufig jeden Anrufer und Besucher annehmen. Was als „dringender Fall“ zu gelten hat, bestimmt er nämlich selber – es sind jene Patienten, die von sich aus in die Praxis kamen. Zwischen den Zeilen erfährt man zudem, dass er seinen Betrieb in der Diagnostik profiliert. Offensichtlich schreibt er sich dabei Manches auf die Fahne, was im Tagesbetrieb ganz selbständig von den tüchtigen Mitarbeiterinnen erledigt wird, die an so einem normalen Tag sogar ohne Dienstbesprechung auskommen. Wenn ihm persönlich die Diagnostik mit den Hausbesuchen samt Behandlungen durcheinander geriete, könnte er als ehrlicher Mann für die dadurch entstehende Mehrarbeit natürlich keine höhere Bezahlung fordern. Das Opferbild des gehetzten, bis an die Grenzen belasteten Arztes will
jedenfalls nicht so recht zur Realität eines Praxisbetriebs mit Partner und Mitarbeiterinnen passen. Es passt
allenfalls zu einem dilettierenden Betriebsleiter, der sich in eine Leitungsposition manövriert hat, die für ihn ein paar
Kragenweiten zu groß ist.

Betriebsleiterkompetenz fordert der Kleinstbetrieb einer Hausarztpraxis genauso wie der Kleinbetrieb einer Klinikabteilung und erst recht der mittlere Betrieb einer Klinik. Was da im Mai 2006 über die Einsatzbedingungen von Assistenzärzten an deutschen Kliniken in die Öffentlichkeit getragen wurde, beweist ausschließlich organisatorisches Versagen, belegt eindrucksvoll völlige Leitungsignoranz und dazu auch noch gutsherrliche Strukturen. Das sollte Zuwender und Träger durchaus alarmieren. Der eigentliche Skandal aber liegt darin, dass die jungen Ärzte bereits zu glauben scheinen, ihre Misere liege in der Natur der Sache und könne nur durch Gehaltspflege geheilt werden. Ihre Ankündigung, widrigenfalls ins Ausland abwandern zu wollen, sollte man deswegen dankbar aufnehmen. Als betriebliche Ignoranten würden sie ohnehin in absehbarer Zeit dem angeschlagenen Krankenhauswesen nur zusätzliche Konflikte bescheren.

Der ärztlichen Standesvertretung aber sollte längst klar geworden  sein, dass chaotischen betrieblichen Verhältnissen nicht durch Tarifverhandlungen abgeholfen werden kann. Wenn nämlich das Beispiel der jüngst geführten Tarifverhandlungen allgemeine Gültigkeit erhielte, müsste künftig auch in anderen Branchen kein unbedarfter Vorgesetzter mehr um seinen Job fürchten. Denn die zuständige Gewerkschaft würde doch alles daran setzen, seine hanebüchenen Schnitzer tariflich kitten zu dürfen. So würde denn ausdrücklich jener Hochstapler auch noch belohnt, der sich bar jeder Leitungskompentenz auf eine Führungsposition schwingt.

Soweit indessen wird es wohl nicht kommen. Dass die Ärztevertreter auch heute wieder das Unmögliche versuchen, um das Mögliche für ihre Klientel herauszuholen, wird die Verhältnisse in Tausenden von Heilbetrieben zwar nicht verbessern. Aber als Warnsignal sollte dieses demonstrative, ungebremste Streben nach Einkommensführerschaft durchaus verstanden werden. Denn es wird die Aussichten für Arztberufe in Deutschland implodieren lassen. Dann wird dieser Berufsstand ganz von allein erst einmal stehen bleiben – Bremsen sind dann überflüssig.

Texte
-> Der totalitäre Traum : Gesinnungs-TÜV
-> Tipp für Sicherheitspolitiker
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-> 2006 - Ärzte ohne Bremsen
-> Monsterschulen sollen Schule machen?

Schiller
Wir haben zu danken, Kollege Schiller..........
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