WM-Sicherheit mit beschränkter Haftung

Ältere Zeitgenossen erinnern sich noch an die weiland Bahnsteigkarte der Eisenbahn. Der Zutritt zu den Bahnsteigen kostete zwar nur ein paar Pfennige. Das Kontrollsystem selber kostete jedoch ein Vielfaches. Man glaubte, sich damit vor „unbefugten“ Nichtreisenden schützen zu müssen. Irgendwann in den 50er Jahren wurde die geliebte Bahnsteigkarte dann
aber – Sicherheit hin oder her – aufgegeben und erst von den U- und S-Bahnen unserer Tage wieder entdeckt.

Deutsche Bahnsteigkartenmentalität wurde ein Dauerbrenner für die Sicherheitsindustrie und gehört zu den nationalen Exportschlagern. Sie gründet auf der bis heute unbewiesenen grundsätzlichen Annahme, wenn man erst einmal die Mehrheit möglicher Bösewichter unter Kontrolle gebracht habe, werde man mit dem Rest umso leichter fertig. Dieser Annahme wird in der Praxis das Gewicht eines veritablen Glaubenssatzes beigemessen. In ihm stecken drei weitere, natürlich ebenso unbewiesene  Annahmen, die deswegen ebenfalls auf festen Glauben angewiesen sind:

o  Jeder Mensch ist jederzeit zu Übeltaten bereit.

o  Kontrolle dämpft die Bereitschaft zum Bösen.

o  Sicherheit ist vor allem eine Folge von Kontrolle.

Bahnsteigkarten-Strategen lassen sich also niemals von der Erfahrung beeindrucken, dass immer nur einige wenige Menschen als Störer, Gesetzesbrecher und Bösewichte auftreten. Sie halten dagegen, dass die Bösen ohne Kontrolle schon bald in der Mehrheit wären, da das Fehlen von Kontrolle die immerwache Bereitschaft zum Bösen zwangsläufig herausfordere. Und umgekehrt lasse jemand umso eher von düsteren Plänen ab, je drastischer er mit Kontrollen konfrontiert werde. Dies steigere dann logischerweise die Sicherheit. Je vollständiger und direkter also die Kontrollmaßnahmen, desto geringer die Anzahl der Übeltaten und desto sicherer folglich die Sicherheit – so die Kalkulation. Da aber jeder Einzelne als potenzieller Täter in Betracht gezogen wird, korreliert der Kontrollaufwand direkt mit der Anzahl der jeweils Anwesenden. Je mehr Menschen, desto mehr Kontrolle, gewissermassen.

Gehobene Sicherheitsbedürfnisse fordern nach dieser Logik gesteigerte Kontrollen für alle Beteiligten. Ein Höchstmaß an Sicherheit wird nur durch ein Höchstmaß an Kontrollen pro Person verwirklicht. An der Häufigkeit und Intensität der Kontrollen pro Person ist diese Art von Sicherheit dann 1 : 1 ablesbar. Absolute Bahnsteigsicherheit kann es zwar nicht geben, weil absolute Kontrolle ja Alles zum Erliegen brächte. Es kommt dem Bahnsteigkarten-Strategen also darauf an, das gerade noch vertretbare Verhältnis zwischen dem angenommenen Risiko und dem Kontrollaufwand zu finden. Glücklicherweise steht ein ganzer Industriezweig mit modernster Technik und nahezu unbegrenzten Personalangeboten zum Einsatz bereit. Tausende von Dedektoren und Videokameras, Scannern und Selektoren der jüngsten Generation und ganze Armeen von Kontrolleuren „am Mann“, Ordnern und Wachleuten sind zur  Demonstration überlegener Kontrolle aufgeboten – ein Millionengeschäft, von dem sich der Erfinder des Bahnsteigkartenprinzips niemals hätte träumen lassen.

Es spielt für diese Strategie nicht die geringste Rolle, ob die einzelne Kontrollmaßnahme „sinnvoll“ ist, ob ein Verdacht vorliegt oder ob damit überhaupt jemals etwas aufgedeckt wurde. Entscheidend ist allein, dass sie ausgeführt wird und zur Kontrolldichte möglichst wirtschaftlich beiträgt. Wer heute fliegen will

oder zu einem Staatsempfang ansteht, wer eine Kaserne oder ein Kernkraftwerk besucht, der mag sich über die naiven Kontrollrituale noch so ärgern – er entkommt ihnen nicht. „Wollen Sie ein Attentat auf den Präsidenten verüben oder sind sie in einen Attentatsplan involviert?“ Man sollte sich absolut hüten, aus Übermut auf dem Fragebogen das JA anzukreuzen, denn es handelt sich hier um ein hehres Kontrollritual. Seit Anfang 2006 werden männliche Passagiere im Flughafen zuweilen aufgefordert, den Hosengürtel zu öffnen oder die Schuhe auszuziehen. Das ist kein Ausdruck eines Verdachts, sondern ein Kontrollritual. Auch das aufgegebene Gepäck erschien niemandem verdächtig – gleichwohl findet der Fluggast beim Auspacken ein Formular auf seinen Hemden, man habe den Inhalt seines Koffers kontrolliert.


Weder der 11.September 2001 noch die U-Bahn-Attacken von Madrid und London haben die Theorie der Kontrolldichte erschüttern können. Diese Strategie kann sich unwiderlegbar auf die Behauptung stützen, mehr Kontrolle hätte die Täter wohl zurückgehalten. Und nicht einmal der Bundesgerichtshof brachte die Bahnsteigstrategen zur Besinnung, als er im Mai 2006 das verdachtsfreie Behelligen und Ausforschen der Bürger unmissverständlich für unzulässig erklärte. Dies sei ein schwarzer Tag für die Terrorismusbekämpfung, beschimpfte man umgehend die hohen Richter.

Da durften sich die Sicherheitsplaner der WM 2006 in bester Gesellschaft wähnen, als sie die Eintrittkarten an die Preisgabe der Personendaten koppelten. Nicht bedacht hatten sie allerdings, dass ausgerechnet ein VIP damit nicht einverstanden sein könnte, als Nutznießer einer von den Steuer abgesetzten Karte identifizierbar zu werden und womöglich später in einer Datei für Briefwerbung oder Vertreter zu landen. Dabei könnte man ja ohne jede tatsächliche Sicherheitseinbuße leicht auf die Personendaten von 300.000 VIPs verzichten. Von ihnen ist kaum eine Gefährdung zu erwarten. Aber der großen Mehrheit der WM-Zuschauer ist durch die Diskussion darüber doch noch einmal bewusst geworden, dass ihr Stadionbesuch unter Kontrolle stattfindet. Insofern kann die VIP-„Panne“ auch dann noch als Sicherheitsgewinn verbucht werden, wenn man für die hohen Gäste einen sozialverträglichen Ausweg nutzt.   

Für die WM darf also mit dem Standard jener speziellen Bahnsteigsicherheit gerechnet werden, die eine Besuchermehrheit durch Kontrolldichte und Kontrolldruck zu Wohlverhalten veranlasst. Es wird gewiss den einen oder anderen Besucher geben, der unter diesen Umständen auf eine Tat verzichtet, die er andernfalls vielleicht begangen hätte. Was wäre dann aber mit einer intelligent und langfristig vorbereiteten Attacke, mit einem diszipliniert und solide auftretenden Attentäter, mit einem wild entschlossenen Psychopathen? Keiner von ihnen braucht zu Ausführung einer monströsen Tat eine Eintrittskarte.

Für diesen Fall hält der Bahnsteigstratege schon heute die Erklärung bereit, dass es eben keine absolute Sicherheit geben könne.

 PS: Ausgerechnet Lenin lästerte als junger Mann, deutsche Revolutionäre würden niemals ohne gültige Bahnsteigkarte einen Bahnhof besetzen. Gleichwohl riet er später als gereifter Klassenkämpfer „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser!“.

Texte
-> Der totalitäre Traum : Gesinnungs-TÜV
-> Tipp für Sicherheitspolitiker
-> WM-Sicherheit mit beschränkter Haftung

-> 2006 - Ärzte ohne Bremsen
-> Monsterschulen sollen Schule machen?

Schiller
Wir haben zu danken, Kollege Schiller..........
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