Der totalitäre Traum : Gesinnungs-TÜV

George Orwell veröffentliche im Juni 1949 seinen Alptraum vom perfekten Überwachungstaat  („Nineteen Eighty-Four)“. Orwell ging es um die Beschreibung totalitärer Staatssysteme. Unerwartet wurde sein Werk sehr bald zur heimlichen Bibel paranoider Kulturwächter. Sie nutzten sogar seine Worterfindungen als sprachliche Infusion: Der Große Bruder, die schlicht an der Wortwahl - Neusprech - erkennbare gute Gesinnung (heute geläufig als political correctness), die stets zu entlarvende Doppeldenke und dergleichen mehr. Orwell lebte von 1903 bis 1950.

Paranoide Kulturwächter waren es auch, die dem seit 1950 weltweit wichtigsten Sozialpsychologen Alfred Fiedler, Jahrgang 1922, ungewollt den Weg in die wissenschaftliche Sozialpsychologie wiesen. 1945 arbeitete  er als junger Psychologe in einem Programm mit dem verharmlosenden  Titel Veteranenbetreuung. À la Orwells „1984“ sollte er herausfinden, ob Kriegsheimkehrer von feindlichem, gar kommunistischem Gedankengut im Feindesland infiziert worden seien. Die inquisitorische Zumutung zeigte Wirkung. Ab 1950 bis 1969 entwickelte er an der University of Illinois seine experimentell ausgerichtete, stringenter Methodik unterworfene sozialpsychologische Forschung. Sie führte zahlreiche psychoanalytisch geprägte Dogmen ad absurdum, die sich in den Sozialwissenschaften breit gemacht hatten: Die Führerpersönlichkeit, der gesunde Menschenverstand, das unbewusste Vorurteil, die produktive Gruppendynamik und dergleichen als angeblich wissenschaftlich gesicherte Psychologismen mehr. Was immer ad absurdum (ins Unbrauchbare) geführt wurde - in Absurdistan gelten andere Spielregeln.

Paranoide Bedrohungsgefühle und psychoanalytisches Weltverständnis sind ohnehin auf wissenschaftliche Legitimation nicht angewiesen. Sie verbreiten sich mühelos über das Jedermanns-Medium Internet. Wenn da auch noch ein persönliches Netzwerk zwischen USA und Europa mitspielt, wird die Bahn frei für psychologischen Mummenschanz, der auch gleich dank vollmundiger Versprechungen zum Mitmachen animiert. Eine Geisterbahn der besonderen Art knüpft unmittelbar an Orwell und die Veteranen-Inquisition der 50er Jahre an: der „implizite Assoziationstest“, der den Zugang zu automatischen Prozessen im Gehirn verspricht. Gemeint sind natürlich bewusst „verborgene“ genauso wie unbewusste Einstellungen etwa gegenüber sexuellen oder ethnischen Minderheiten, gegenüber moralischen oder weltanschaulichen Werten. Den Test gibt es praktischerweise auch gleich in einer 5-Minuten-Kurzversion, die den latenten Frauen- oder Fremdenhasser entlarvt, während dann die Langversion die innere Distanz zu den demokratischen Grundwerten enttarnt.

Die psychoanalytische Uralt-Vorstellung von der Projektion, der unwissentlichen Bekanntgabe des „tief innen“  Wuchernden, kommt da im frischen Gewand der Reaktionszeitmessung als „impliziter Test“ daher. Hinter dem wissenschaftlich klingenden Begriff steckt in Wahrheit das längst widerlegte Dogma vom dunklen Triebe, dem der überlegene Moralwächter auf die Schliche zu kommen vorgibt. Weder in der SZ noch im SPIEGEL möchte man solche alten Hüte präsentiert bekommen – schon gar nicht, wenn wichtigtuerische kommerzielle „Befürworter“  und wissenschaftlich profilierte „Kritiker“ dazu selektiv zitiert werden, um ethische Bedenken pflichtgemäss zu Worte kommen zu lassen. Wie solche Ausgewogenheit gemeint ist, zeigen schon Sätze wie „Psychologen messen verborgene Vorurteile“ oder „Computertests lassen ahnen, wie häufig versteckte Vorurteile sind“. Weder das eine noch das andere stimmt. Wohl aber gibt es verborgene oder versteckte Werbebotschaften, die den psychologischen Laien glauben machen könnten, Gesinnung lasse sich erschnüffeln, wenn man nur die richtige Methode anwendet.

Ob Reaktionstest oder Integritäts-Fragebogen: Dergleichen gehört in den Schredder der Logik: Es gibt definitiv keinen Zusammenhang zwischen Reaktionszeiten und persönlicher Einstellung – auch wenn ein „Computertest“ das Gegenteil suggeriert. Und es gibt keinen Weg in ein unbewusstes - auch wenn das von geschäftstüchtigen "Experten" seit 100 Jahren behauptet wird.

Texte
-> Der totalitäre Traum : Gesinnungs-TÜV
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-> Monsterschulen sollen Schule machen?

Schiller
Wir haben zu danken, Kollege Schiller..........
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