Spontanes Tiefenwerfen

In Jahrensabständen werden Fälle bekannt, bei denen Insassen eines Kraftfahrzeugs durch Gegenstände verletzt oder getötet wurden, die von Brücken und Überwegen auf die Fahrbahn fielen. In der Verkehrsunfallstatistik werden sie wegen ihrer geringen Anzahl als „sonstiger“ Unfalltyp zugeordnet. In der Kriminalitätsstatistik werden diese Fälle je nach den Umständen zugeordnet bis hin zu Mord.

Von einer Brücke auf die Fahrbahn fallende Gegenstände können Teile der Ladung oder des Zubehörs direkt überfahrender Fahrzeuge sein. Sie können auf der Brückenfahrbahn liegen und durch Einwirkung eines Fahrzeug-Reifens mobilisiert worden sein. Sie können auch von Fußgängern direkt geworfen oder fallen gelassen worden sein. Die meisten dieser Gegenstände werden nach Auftreffen auf der Fahrbahn durch überfahrende Fahrzeuge zur Seite geschleudert. Aus Art und Menge der auf Seiten- und/oder Mittelstreifen verbliebenen Objekte läßt sich die Grundgesamtheit heruntergefallener oder geworfener Gegegenstände grob abschätzen. Kontrollierte Untersuchungen hierzu sind nicht bekannt. Bei fallweisen Zählungen wurden bis zu über 1000 Objekte angetroffen. Die zuständigen Straßenmeistereien berichten lediglich auf Anfrage über brückentypisch gehäuftes Müllvorkommen. Bei rund 3.600 Brücken mit Fußgängerverkehr ist in Deutschland pro Tag mit 300 bis 400 Abwürfen zu rechnen, die ganz überwiegend folgenlos bleiben.

Jede Untersuchung von Schadensereignissen durch „Treffer“ im fließenden Verkehr muss zunächst davon ausgehen, dass der schadensverursachende Gegenstand von einem vorausfahrenden Fahrzeug stammen könnte, der direkt auftraf oder durch Reifeneinwirkung eines Folgefahrzeugs hochgeschleudert wurde. Wenn ein „Treffer“ in unmittelbarer Nähe einer Brücke lag, ist dann auch die Möglichkeit zu betrachten, dass der Gegenstand direkt von einem überquerenden Fahrzeug herabfiel oder durch dessen Reifendruck von der Brückenfahrbahn geschleudert wurde. Wenn die Brücke auch von Fußgängern benutzt wird, ist darüber hinaus die Möglichkeit eines direkten Fallenlassens oder Werfens des Gegenstandes durch eine Person zu untersuchen. Dies wird obligat, wenn die Täterschaft eines Fußgängers von Augen- oder sogar Tatzeugen berichtet wurde.

Das Schadensereignis zu Ostern 2008 auf der Autobahn in der Nähe von Oldenburg im Bereich einer auch von Fußgängern genutzten Brücke wurde spontan und ohne Kenntnis näherer Umstände einem jugendlichen Täter zugeordnet. Eine Mordkommission nahm Ermittlungen auf. Umfangreiche Fahndungsaktivitäten hatten das Ziel, den vermuteten Täter zu identifizieren. Die schließlich auf 27 Köpfe angewachsene Mordkommission setzt darauf, durch Fahndungsdruck, also durch Aussetzen einer Belohnung, Einsatz von Phantombildern, extensive Befragungen in der Bevölkerung und Ankündigen flächendeckender Speichelproben, den oder die Täter zur Aufgabe zu bewegen. Dies hätte zum Erfolg führen müssen - wenn der schadensverursachende Holzblock tatsächlich von einem Jugendlichen allein oder mit anderen fallen gelassen oder geworfen wurde.

Allerdings gibt es für diese Annahme keine Zeugen und auch die Herkunft des Holzblocks blieb bis heute unbekannt. Er trägt auffällige Arbeitsspuren, die auf eine mehrfache und zeitlich ausgedehnte gewerbliche Vorverwendung hinweisen. Dies könnte die Annahme rechtfertigen, dass er den Arbeitsmitteln eines Materialtransporters zuzuordnen ist. Er könnte von der Ladefläche eines solchen Transporters gefallen sein. Er könnte aber auch aus Restholzfuhren stammen, die in der Vor-Osterzeit auf dem Weg zu Osterfeuerplätzen die Brücke querten. Falls er auf der Brücke von der Ladefläche gefallen wäre, könnte der vermutete jugendliche Täter oder ein anderer ihn dort gefunden und verwendet haben. Lediglich aufgrund des Gewichts (6 Kilo) darf unterstellt werden, dass diese Person nicht etwa ein Kleinkind oder körperlich stark behindert war.

Die Erstvermutung indessen, dass der Holzblock von der Brücke und von einem Jugendlichen fallen gelassen oder geworfen wurde, beruht nur auf Spekulation. Falls er tatsächlich von der Brücke fallen gelassen oder geworfen wurde, kämen als Täter gleichermaßen ältere Kinder, Jugendliche und auch sonst Personen jeden Alters infrage. Aufgrund lediglich allgemeiner Erfahrung liesse sich der Kreis allenfalls auf männliche Personen einengen, zu deren beobachtbaren Verhaltensmustern es zu gehören scheint, aus erhöhten Positionen Gegenstände fallen zu lassen oder zu werfen. „Spontanes Tiefenwerfen“ ist als Verhaltensmuster tatsächlich weit verbreitet und häufig zu beobachten. Dies läßt sich nicht nur an der schieren Menge des jeweiligen Wurfmülls, sondern auch an dem leicht beobachtbaren Verhalten von Besuchern an Aussichtspunkten beliebiger Art nachvollziehen.

So sind es erfahrungsgemäß ganz überwiegend männliche Personen jeden Alters, die aus höheren Stockwerken eines Gebäudes, von Türmen, von Anhöhen („Gipfelvandalismus“) oder eben auch von Brücken gerade verfügbare Gegenstände abwerfen. Hier sein dahingestellt, ob diese dabei einem spezifischen Reiz erliegen, ob dabei vielleicht in Bewegung befindliche Objekte - Fahrzeuge, Schiffe, Tiere oder Menschen – als archaisches Jagd- oder Beuteschema wirken. Jedenfalls muss aber dieser Reiz beherrschbar und die Reaktion darauf steuerbar sein, da erfahrungsgemäß vorwiegend solche Personen darauf reagieren, die in ihrer Selbstkontrolle erheblich eingeschränkt sind. Etwaige Intelligenzdefizite und alkohol-, medikamenten- oder drogenbedingte Beeinträchtigungen oder auch psychische Ausnahmezustände könnten solche Einschränkungen nach sich zu ziehen. Diese bisher nur empirisch belegbaren Umstände würden es erlauben, den möglichen Täterkreis entsprechend weiter einzuengen.

Einschränken oder zumindest in der Auswirkung minimieren läßt sich das spontane Tiefenwerfen von Brücken nur durch Fangnetze oder durch Einhausungen mit engmaschigen Gittern oder Glas an den Fußgängerwegen. Dies wird an einigen wenigen Brücken praktiziert und entspricht den Empfehlungen des Weltstraßenverbandes PIARC, Paris.

Zwar wird allgemein unterstellt, das aktuelle Schadensereignis sei das Ergebnis einer zielgerichteten Handlung. Dann aber müsste ein besonderes Geschick und zudem eine Geübtheit des Werfers angenommen werden, die nur durch intensives Training zu erreichen wäre. Ohne besondere Begabung und Geübtheit würde die Trefferwahrscheinlichkeit im unkalkulierbaren Bereich bleiben. Bei dem Schadensereignis von Oldenburg traf ein Holzblock die Windschutzscheibe. Aus der Werferperspektive von oben hätte ein Täter dazu auf eine etwa zwei Meter lange Linie zielen müssen, die sich in einer Breite von etwa 10 Zentimetern mit rund 100kmh auf ihn zubewegte. Da es bereits dunkel war, hätte er das Ziel auch nur anhand der Scheinwerfer anvisieren können. Daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich hier um einen gezielten Wurf gehandelt haben könnte, vernachlässigbar gering. Denkbar ist lediglich eine Art Roulette-Wurf, bei dem die Möglichkeit eines Treffers mit einer geringen Wahrscheinlichkeit erwartet, das Risiko einer Verletzungs- oder Todesfolge aber ausgeblendet wurde.

Die derzeit verbreiteten Täterbeschreibungen skizzieren einen Jugendlichen, der zynisch den Tod eines Autoinsassen in Kauf nimmt, um eine geplante Mutprobe auszuführen, um seine Zerstörungslust zu befriedigen oder um ein Machtgefühl auszuleben. Er schafft deswegen einen schweren Holzblock zur Brücke und wirft ihn über die Brüstung. Anschließend hält er dem enormen Fahndungsdruck stand und beherrscht sogar die ihn bei der Tat begleitenden Augenzeugen soweit, dass sie ebenfalls dem Fahndungsdruck standhalten. Es müsste sich also um eine sehr seltene, eine Ausnahmepersönlichkeit handeln, deren Existenz nur wenig wahrscheinlich ist.

Diese Phantombeschreibung (im Sinne des Wortes) bezieht ihre Attraktivität aus dem Klischee, das sich um die „Gewaltbereitschaft der Jugend“ oder auch um den „jugendlichen Intensivtäter“ gebildet hat. Es erhält einen gewissen Wirklichkeitsbezug lediglich durch Medienberichte über den Fahndungsaufwand und durch die wiederholte Verbreitung der Tätercharakteristik. Nach derzeitigem Wissensstand sind jedoch keine Tatsachen bekannt, mit denen sich die Phantombeschreibung begründen liesse.

© Dipl. Psych. Georg Sieber, München, im April 2008

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